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Entwicklung der Posaunenchorliteratur

Andere Zeiten, andere Noten? Zur Entwicklung der Posaunenchorliteratur

von Hartmut Müller
aus der Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Posaunenchores Alzey.

Als der Evangelische Posaunenchor Alzey 1909 als Gruppe des Evangelischen Vereins gegründet wurde, geschah dies in eine Zeit hinein, die uns heute weit entfernt ist. Aus eigenem Erleben kann heute niemand mehr darüber berichten und so sind wir auf schriftliche &Uuuml;berlieferungen angewiesen, wenn wir der Frage nachgehen wollen, was damals im Posaunenchor musiziert wurde. Hat die damals gespielte Literatur die Zeit widergespiegelt? Haben gesellschaftliche Veränderungen und musikalische „Großströmungen“ die Literaturauswahl des Posaunenchors beeinflusst? Dieser Frage möchte ich in den folgenden Zeilen in aller Kürze nachgehen.

Die Anfangsjahre des Evangelischen Posaunenchors fallen in die Zeit des Kaiserreichs unter Wilhelm II. Die Verflechtung zwischen Staat und Kirche war recht eng. Auch bestritt die Kirche, bzw. in Alzey der Evangelische Verein, der 1904 als eigenständige Institution gegründet wurde, einen Großteil der Freizeitgestaltungsmöglichkeiten für junge Menschen: Jungfrauenchor, Posaunenchor, Theatergruppe und auch Sportgruppe waren Angebote, die von den Jugendlichen gerne angenommen wurden.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich dieses enge Nebeneinander von weltlichem und geistlichem Leben auch in den damals musizierten Stücken niederschlug. So steht in damaligen Notenausgaben „Heil Dir im Siegerkranz“ und „Ich bin ein Preuße“ neben „Der Herr ist mein Hirt“ und „Heilig ist der Herr“. Das mag für uns Heutige ein Widerspruch sein: Auf der einen Seite der Anspruch der Posaunenchöre, zur Ehre Gottes zu spielen. Auf der anderen Seite Märsche und patriotische Lieder, deren Texte uns heute eher befremden. Beides hatte seinen festen Platz im Repertoire. Die Leitfigur der Posaunenchorbewegung, Johannes Kuhlo, schreibt: „…Märsche bei patriotischen Festen, Marsch- und Freiübungen, aber Choräle und geistliche Lieder an Sonntagen, Jubiläen und christlichen Festen…“ (Vorwort zum Posaunenbuch, III. Teil, 5. Aufl. 1926). Wobei hervorzuheben ist, dass er den Chorälen den größten Stellenwert einräumt.

Drei Bücher aus der Anfangszeit haben sich im Notenschrank des Evangelischen Posaunenchors Alzey in die heutige Zeit retten können: Das oben bereits zitierte Posaunenbuch von Johannes Kuhlo, Teile I – III. Der erste Band enthält die damals gängigen Choräle. Im zweiten Teil finden sich für Posaunenchor eingerichtete Motetten, meist aus dem 19. Jahrhundert, „Natur- und Gemeinschaftslieder“ und „Vaterlandslieder“. Der dritte Band enthält Volkslieder. Dass diese Bücher den Grundstock für das Repertoire der rheinhessischen Posaunenchöre von den 20er bis in die 1950er Jahre bildeten, geht aus einem Vergleich mit den erhaltenen Programmen dieser Zeit hervor. Für das Choralspiel war das Choralbuch von Pfarrer Kapesser gebräuchlich.

Das erste erhaltene Programm des Evangelischen Posaunenchors Alzey ist datiert vom 10. Oktober 1920, das Jahresfest des C.V.J.M. Alzey. Gespielt wurde u.a. „Dies ist der Tag des Herrn“, „Pilgerchor“, „Chor aus Lohengrin“ sowie verschiedene Choräle.
Andere Programme dieser Zeit weisen ähnliche Mischungen auf: „Die Himmel rühmen“, „Brautlied aus Lohengrin“, „Largo von Händel“, „Das große Halleluja“ von Händel, aber auch Märsche und patriotische Stücke wie „Heimkehr des Kriegers“ standen nebeneinander.

Während des Ersten Weltkriegs ruhte die Arbeit des Posaunenchors. Aber auch in der Weimarer Republik und bis hin ins Dritte Reich änderte sich die Literatur wenig.

In den Dreißiger Jahren beginnen in Alzey die Wiederentdeckung und das vermehrte Musizieren alter, barocker Literatur. Dies ist als Konsequenz der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung zu sehen, die sich ab etwa 1920 auf alle Bereiche kirchlichen Musizierens erstreckte. Die Literatur und Instrumente des 17./18. Jahrhunderts wurden als Ideal propagiert, die grundtönigen Orgeln und „schwülstigen“ Gesänge des 19. Jahrhunderts als minderwertig verworfen.
So präsentierte sich der Alzeyer Posaunenchor bei einem Wertungsblasen am 20. Juli 1932 mit einer Turmsonate und einer Intrade aus der „Hora decima“ von Johann Pezelius. Dies war etwas Besonderes, wie der Wertungsrichter, Prof. Kurt Utz, in seiner Beurteilung vermerkt: „…Insbesondere möchte ich aber hier als rühmliche Ausnahme unter der Mehrzahl der Chöre ausdrücklich hervorheben, den besonderen Eifer, der sich kund tat in der Wahl des herrlichen Stückes eines alten Meisters, die dem musikalischen Geschmack des Chors und seines Dirigenten das denkbar beste Zeugnis ausstellt…
Ein weiteres Indiz für den sich ändernden musikalischen Geschmack in Alzey findet sich im Kündigungsschreiben des langjährigen Organisten und Leiters des Jungfrauenchors, Lehrer Schuckmann, vom 3. Dezember 1932: „…Aber wie auf allen Gebieten, so macht sich auch in der Kirchen-Musik eine wesentl. Änderung resp. Neuerung bemerkbar. Maßgebliche Persönlichlichkeiten versuchen altkirchliche Choräle und geistliche Lieder aus früheren Jahrhunderten auszugraben, um sie in unseren Gottesdiensten zu verwenden ….

Doch bevor diese musikalische Entwicklung in Alzey richtig Fuß fassen konnte, beendete der Zweite Weltkrieg wiederum die Arbeit des Posaunenchors.

Wie 1919 griff man auch nach 1945 zunächst auf noch vorhandenes Notenmaterial zurück. Doch mit der kirchenmusikalischen Aufbruchstimmung, der in Alzey durch die Gründung eines „Singkreises“ Rechnung getragen wurde, änderte sich nach und nach das Repertoire im Sinne der vor dem Krieg begonnenen Erneuerungsbewegung. Natürlich findet man noch die alten, vertrauten Stücke auf den Programmen, jedoch taucht immer häufiger der Name J.S. Bach auf, so beim Posaunentag in Alzey 1950. Auch Schein, Scheidt und Franck sind im Repertoire vertreten. Schließlich findet im Oktober 1950 eine Bachfeierstunde in der Nikolaikirche unter Mitwirkung des Posaunenchors statt.
Auch die 1956 erbaute neue Orgel der Nikolaikirche wurde unter Rückbesinnung auf die Ideale des barocken Orgelbaus konzipiert.
Ein entscheidender Einschnitt für die kirchenmusikalische Arbeit war die Errichtung der hauptamtlichen Kantorenstelle zum 1. Dezember 1956. Die beiden ersten Kantoren Baus und Harrassowitz haben beide in Frankfurt/Main studiert. Dort lehrten mit Helmut Walcha und Philipp Reich zwei prominente Vertreter der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung, was sich natürlich auch in der während der Ausbildung weitergegebenen Literatur niederschlug. Walcha z.B. lehnte es ab, Orgelwerke von Max Reger zu unterrichten, hat andererseits z.B. mehrere Orgelwerke des für die deutsche Kirchenmusik der Nachkriegszeit wichtigen Kurt Hessenberg uraufgeführt.
Und so finden sich im Repertoire des Posaunenchors unter Kantor Harrassowitz Intraden von Komponisten des 17. Jahrhunderts wie Schein, Scheidt und Franck; auch Werke aus der Frühzeit mehrchöriger Bläsermusik wie z.B. von Gabrieli wurden aufgeführt. Aber auch moderne Stücke nahm Harrassowitz in das Repertoire auf, wie er selbst in seinem Beitrag zu dieser Festschrift schreibt. Eine vielbenutzte Veröffentlichung dieser Zeit waren die beiden Bände „Laß dir unser Lob gefallen“.
Dieses Repertoire wurde unter Kantor Henning beibehalten und weiter ausgebaut: viele alte Intraden des 17. Jahrhunderts finden sich in den Programmen seiner Amtszeit. Darüber hinaus erarbeitete Henning aber auch viele Werke der damaligen kirchenmusikalischen Moderne: Anspruchsvolle Choralvorspiele und Choralbearbeitungen, u.a. aus dem Buch „Bläservorspiele zum Evangelischen Kirchengesangbuch“ und dem Buch „Lass dir unser Lob gefallen Bd. 3“ wurden aufgeführt. Darunter sind z. B. Kompositionen von Johannes H. E. Koch, Magdalene Schauß-Flake und Manfred Schlenker zu finden. 1969 führte Henning zum 60jährigen Bestehen des Posaunenchors 1969 „Die Stillung des Seesturms“ von Paul Ernst Ruppel auf. Auch die recht bekannten Kantaten für Posaunenchor und Chor von Walter Rein erklangen in diesen Jahren.
Weiterhin hat Herbert Henning einige Stücke für Posaunenchor bearbeitet bzw. selbst komponiert und war maßgeblich an der Literaturauswahl für Dekanats- und Propsteiposaunentage beteiligt.

Das Aufkommen des „Neuen Geistlichen Lieds“ und der Gospel-Bewegung in den Chören hatte schließlich auch Auswirkungen auf die Bläserliteratur. Hier setzte man auf swingende, jazzinspirierte Musik, um junge Menschen für den Posaunenchor zu gewinnen.
Kantor Hanns-Peter Springer studierte mit dem Alzeyer Posaunenchor nach seinem Amtsantritt 1995 vermehrt Stücke dieser Art ein. Durch die Anschaffung der Bläserhefte des bayerischen Posaunenwerks und der Reihe „Majesty“ wurden neue musikalische Gebiete erschlossen.
In den letzten Jahren wird die Musik der Romantik wiederentdeckt. In neusten Veröffentlichungen finden sich wieder einige der zu Beginn des 20. Jahrhunderts populären Stücke wie „Schon die Abendglocken klangen“.
Und so sind wir momentan in einer Phase, in der eigentlich alle musikalischen Epochen gleichberechtigt nebeneinander und in verschiedensten Notenausgaben zur Verfügung stehen.
Ich selbst versuche, alle diese Epochen bei der Literaturauswahl für den Posaunenchor zu berücksichtigen. Maßgeblich ist dabei für mich die Qualität der Stücke, es soll nicht „einfach“ klingen. Allerdings beschränke ich mich meist auf Stücke mit zumindest geistlichem Hintergrund.
Ich hoffe, dass es mir weiterhin gelingt, aus dem reichen Schatz der überlieferten und neu entstehenden Literatur stets Werke auszuwählen, die Zuhörer und Bläser erfreuen, und letztlich auch dem Wahlspruch der Posaunenchöre „Gott loben, das ist unser Amt“, dienen.

Die Festschrift kann man für 10 € bei Hartmut Müller bestellen.
Ein weiterer Beitrag aus dieser Festschrift: „Über die Posaunenchorbewegung“ von Christoph Biermann