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Glühwein in der Weihnachtsbäckerei

Als Musiker und vor allem Kirchenmusiker fängt mein Advent ja schon immer direkt nach den Sommerferien an, spätestens jedoch im September.

Stücke müssen ausgesucht und geprobt werden, auch die kleinen Trompeten- und Posaunenschüler wollen Oma unterm Baum ein Weihnachtsliedchen vorspielen und brauchen reichlich Übezeit dafür.

Wenn der Advent dann losgeht, hab ich eigentlich schon garkeine Lust mehr drauf, es hängt mir schon *aus den Ohren*, aber kein Pardon – die Auftritte in diesen 4 Wochen müssen absolviert sein, mit immer denselben Liedern.

Trotzdem tappte ich vor vielen vielen Jahren in eine böse Falle, die mich bis heute verfolgt.

Es begab sich aber zu der Zeit , dass 2 Freundinnen und ich irgendwann im November spätabends nach dem Kindergarten-Elternstammtisch noch im Dorfwirtshaus saßen.

(Wer es noch nicht kennt: Kindergarten-Elternstammtisch gehört laut Genfer Konvention zur *Schweren Folter* und wird mit Verabreichung von reichlich C2H5OH bestraft).

Eine erzählte, im Dorf wo ihre Chefin wohnt, gäbe es einen *lebendigen Adventskalender*, die Leute dort träfen sich im Advent allabendlich jeweils vor anderen Häusern, es gäbe ein kleines Programm von vielleicht einer Viertelstunde.

Spontan beschlossen wir *Das machen wir hier auch!*

Da ich mit Hilfe von Kollegen am leichtesten ein Programm auf die Füße stellen konnte, wurde ich erkoren, das erste Fensterchen zu öffnen. Noch 2 Trompeten und eine Posaune organisiert, einige Liedtexte kopiert, das war kein Problem, aber was dann?

Glühwein!

Glühwein gehört doch zum Advent wie Plätzchen. Plätzchen hatte ich schon, genug, um die hoffentlich zahlreichen Besucher versorgen zu können, also noch Glühwein.

Rüber zu Nachbars: *Habt ihr vielleicht noch billigen Wein, den man zu Glühwein verarbeiten könnt?*

Ja, ebenfalls kein Problem, einige Flaschen, deren Korken undicht geworden waren, noch gut, aber nicht mehr verkäuflich, wurden großzügig spendiert.

Wie warm machen?

Das seit der Hochzeit ungenutzt im Weg rumstehende Hochzeitsgeschenk meiner Patentante kam mir in den Sinn: als praktisch denkende Dorf-Bauersfrau mit großem Garten und ausgeprägter Vorratshaltungsmentalität (man weiß ja nie, was kommt) hatte sie uns einen elektrischen Einkochtopf geschenkt. (*Vielen Dank, liebe Tante, das ist ja wirklich praktisch!* verkrampft lächelnd Zähne zeigend – gartenlose Studenten inner 2-Zimmer-Stadtwohnung). Funktioniert das noch? Wo steht das eigentlich momentan? (nach vielen Umzügen).

Beides: er funktioniert noch UND ich hab ihn gefunden!

Wein rein, Handvoll Zimtstangen dazu und eingeschaltet.

Zum Glück kam Nachbarin vor Beginn noch mal zur Kontrolle (oder sie kannte mich inzwischen, um mir nicht so recht zu trauen?)
*Bah, is der sauer! Haste da kein Zucker drin?*
*Zucker?* schwitz, gehört da Zucker rein? Ich hab überhaupt keinen Zucker im Haus … Als alter Vollkorn-Öko back ich doch alles mit Honig …
Nachbarin hilft wieder und kippt eine Dreiviertelpackung Zucker in den Topf.
Die Leute kommen, singen, trinken und sind begeistert und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Am nächsten Abend *beim Fenster*, wie es nur noch kurz genannt wird, können die Kinder Plätzchen mit bunter Lebensmittelfarbe bemalen, wir Erwachsenen stehen gemütlich, unterhalten uns, Glühwein in der Hand, während im Hintergrund vom Band *in der Weihnachtsbäckerei* nudelt.

Am übernächsten Abend gibt es Glühwein erst, nachdem wir *in der Weihnachtsbäckerei* selbst gesungen haben und im Lauf der nächsten 20 Tage hören und singen wir jeweils mehrfach:
  • *in der Weihnachtsbäckerei* a capella
  • *in der Weihnachtsbäckerei* mit Gitarrenbegleitung
  • *in der Weihnachtsbäckerei* mit Klavierbegleitung
  • *in der Weihnachtsbäckerei* von CD
  • *in der Weihnachtsbäckerei* als Videoclip

Dazu gibt es Glühwein rot und weiß, mit Amaretto, Rum, Kirschlikör aufgespritet, *babbisch-süß* (sorry, aber das hochdeutsche Wort *klebrig-süß* kann den Ekelfaktor nicht annähernd ausdrücken) oder auch einfach den *Christkindlesmarkt* Glühwein aus der Literflasche aufgewärmt.

Zwischendurch immer mal der Notruf *Du hast doch so nen Einkochtopf, könnt ich mir den mal leihen?(innerliche Abbitte an die Patin: dein Hochzeitsgeschenk war DOCH sinnvoll! Von den 12 superteuren Sektgläsern der anderen Patin *leben* nur noch 2).

Zwischendurch kann ich an einigen *Fenstern* nicht teilnehmen, da ich Auftritte auf diversen Weihnachtsmärkten habe.

Es singt der Männergesangsverein *Hoch tut euch auf* oder *Sankt Niklas war ein Seemann* und der Kindergarten *in der Weihnachtsbäckerei*, a capella, mit Gitarren-, Klavier- oder vom-Band-Begleitung

Anschließend gibt's einen *Frei-Glühwein-für-die-Mussigg*, babbisch-süß, rot oder weiß, mit künstlichen Aromen *aufgepeppt* oder al la nature …

Meine Gehörgänge verkrampfen sich in die Gehirnwindungen hinein, die reichliche Zufuhr von babbisch-süßem, erwärmten C2H5OH verklebt Geschmacksnerven und Ansatz, meine Augen werden glasig … meine Finger krampfen sich um das Instrument.

Zwischendrin Anruf von meinem Landesposaunenwart: Zuckowski gibt die Abdruckerlaubnis für den Bläsersatz zu *in der Weihnachtsbäckerei* nur gegen eine so horrende Summe heraus, dass dies das nächste Bläserheft drastisch verteuern würde und Chef möchte ein Meinungsbild haben: soll er das Geld investieren oder auf das Lied verzichten?

Ich hole tief Luft, ermahne mich selbst, dass Weihnachten das Fest der Liebe und des Friedens ist und schaffe es tatsächlich, zum Verzicht zu raten, ohne Chef zu sagen, er könne sich die Weihnachtsbäckerei dorthin stecken, wo ihre Produkte natürlicherweise wieder zum Vorschein kommen!

Chef ist ein freundlicher Mensch und kann ja schließlich nix dafür.

Es naht der 23. und damit das letzte *Fenster*

Die Gastgeberin hat von allen bisherigen Fenstern einige Minuten gefilmt, das zusammen geschnitten und zeigt nun noch einmal die Höhepunkte des Advents: *in der Weihnachtsbäckerei* a capella, mit Gitarren-, Klavier- oder vom-Band-Begleitung, als Kinderchor oder vom Video …

Heilig*Mittag*, beim Baum-und-Wohnung-schmücken ertrag ich nur noch *Wir warten aufs Christkind* von den *roten Rosen* und zwar nach Packungsanweisung: LAUT!

Dann ist es vollbracht, Heiligabend-Gottesdienst in der Kirche, auf dem Liedzettel – oh Wunder – keine *Weihnachtsbäckerei*?

Stattdessen die schönen alten Lieder.

Meine Gehörwindungen entspannen sich langsam, *Vom Himmel hoch*, *es ist ein Ros' entsprungen* oder das Raucherlied *Ich steh mit meiner Kippe hier* (und nebenbei einen Blick zu den Kollegen im Bass riskieren, deren Züge im schönen Bach'schen Generalbass heißlaufen :D), meine Augen bekommen festlichen Glanz, das Instrument liegt leicht in der Hand, ich hab wieder Luft, die Melodien laufen wie von alleine.

Das große Finale mit *oh du Fröhliche* , gib alles was geht, Hunderte Kehlen schmettern unten im Kirchenschiff, die Orgel zieht alle Register (aber wir sind immer noch lauter — ;-) ) — dieser Riss im Putz über uns — war der vorher auch schon da?

Einpacken, runter und raus.

Die kalte Luft tut gut, keine Glühwein- oder Bratwurstschwaden umnebeln die Nase.

Zuhause nur noch die Füße ausstrecken, der Kartoffelsalat steht schon aufm Tisch, die Würstchen sind heiß (gelobt sei der Erfinder der Herd-Zeitschaltuhr), Wir öffnen eine Flasche Winzersekt — den hammer uns aber wirklich verdient!

Der erste Schluck perlt wie Schneegestöber über die Zunge, leicht und prickelnd &hellip: keine Spur, kein Hauch von irgendwie Süße und Kitsch, reiner Riesling, knackig und doch rund.

Und dann endlich: STILLE Nacht!

Der geneigte Leser mag es ahnen: bei uns werden unterm Weihnachtsbaum KEINE Lieder gesungen!

Barbara Alban
EPC Eltville